„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. […] Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen.“1
Wenn es wahr war als Marx diese Passage schrieb, als man von Kommunismus nur im Futur sprechen konnte, so ist es heute umso wahrer, jetzt, wo Anarchisten und Kommunisten von ihren eigenen „Geschichten“ sprechen können und in der Tat selten von etwas anderem sprechen. Der Marxismus selbst ist nun eine Tradition toter Generationen und sogar die heutigen Situationisten scheinen Schwierigkeiten zu haben, „das zwanzigste Jahrhundert zu verlassen“2.
Wir schreiben dies nicht aufgrund irgendeiner Vernarrtheit in die Gegenwart oder irgendeinem daraus resultierendem Drang, kommunistische Theorie zu „aktualisieren“. Das einundzwanzigste Jahrhundert – genau wie das vorhergehende – ist geprägt vom Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, der Trennung zwischen Arbeit und „Leben“ und der Herrschaft der abstrakten Wertform über alles. Somit ist es genauso wert, verlassen zu werden, wie das vorhergehende. Das „zwanzigste Jahrhundert“, welches den Situationisten vertraut war, seine Konturen der Klassenverhältnisse, seine Zeitlichkeit des Fortschritts und seine postkapitalistischen Horizonte sind jedoch offensichtlich hinter uns. Theorien der Neuheit langweilen uns – Postmodernismus, Postfordismus und jedes neue Produkt der Akademie – nicht so sehr, weil sie es nicht schaffen, eine wesentliche Kontinuität zu erfassen, sondern weil die kapitalistische Restrukturierung der 1970er und 1980er Jahre nicht mehr neu ist.
In dieser ersten Ausgabe von Endnotes haben wir eine Serie von Texten zusammengetragen (im wesentlichen ein Austausch zwischen zwei kommunistischen Gruppen in Frankreich), welche alle die Geschichte der Revolutionen im zwanzigsten Jahrhundert betreffen. Die Texte zeigen eindeutig, dass die Geschichte dieser Revolutionen eine Geschichte des Scheiterns ist, entweder, weil sie von der kapitalistischen Konterrevolution niedergeschlagen wurden, oder, weil ihre „Siege“ selbst die Form der Konterrevolution annahmen – indem sie gesellschaftliche Systeme aufbauten, welche es, aufgrund ihrer Zuversicht in Handel mit Geld und Lohnarbeit, nicht schafften, den Kapitalismus zu überwinden. Letzteres war jedoch nicht einfach ein „Verrat“; genau wie ersteres nicht das Resultat von „strategischen Fehlern“ oder fehlenden „historischen Bedingungen“ war. Wenn wir uns mit der Frage dieses Scheiterns befassen, können wir nicht auf den Tatsachen widersprechende „was, wenn“ zurückgreifen – indem wir alles andere (Anführer, Organisationsform, falsche Ideen, unreife Bedingungen) als die Bewegungen selbst in ihrem bestimmten Inhalt für die Niederlage der revolutionären Bewegungen verantwortlich machen. Es ist das Wesen dieses Inhalts, welches im folgenden Austausch diskutiert wird.
Durch die Veröffentlichung solch „historischer“ Texte versuchen wir nicht, ein Interesse für Geschichte per se zu ermutigen und auch nicht, dem Interesse für die Geschichte der Revolutionen oder der Arbeiterbewegung neues Leben einzuhauchen. Wir hoffen, dass die Beschäftigung mit dem Inhalt der Kämpfe des letzten Jahrhunderts dazu beiträgt, die Illusion zu untergraben, dass es irgendwie „unsere“ Vergangenheit sei, etwas, das geschützt oder bewahrt werden sollte. Marxens Maxime erinnert uns an die Notwendigkeit, das tote Gewicht der Tradition abzuwerfen. Wir würden so weit gehen, zu sagen, dass wir, mit Ausnahme der Anerkennung des historischen Bruchs, welcher uns von ihnen trennt, nichts aus dem Scheitern vergangener Revolutionen zu lernen haben – und sie auch nicht wiederholen müssen, um ihre „Fehler“ zu entdecken oder ihre „Wahrheiten“ herauszudestillieren – es wäre sowieso unmöglich, sie zu wiederholen. Indem wir eine Bilanz dieser Geschichte erstellen, sie als beendet voraussetzen, ziehen wir eine Linie, welche die Kämpfe unserer Zeit in den Vordergrund stellt.
Die zwei Beteiligten des Austauschs, den wir veröffentlichen, Troploin und Théorie Communiste, sind beide aus einer Tendenz Anfang der 1970er Jahre entstanden, welche sich, auf der Grundlage der neuen Eigenschaften des Klassenkampfes, die historische Ultralinke sowohl in ihrer deutsch-holländischen (rätekommunistischen) als auch in ihrer italienischen (bordigistischen) Spielart und auch das jüngere Werk der Situationistischen Internationalen und Socialisme ou Barbarie kritisch angeeignet hat. Bevor wir in die Texte selbst einführen, müssen wir also in den gemeinsamen Hintergrund einführen.
Als Guy Debord 1954 „arbeitet niemals“ auf die Bankwand im linken Durchgang schrieb, war die von Rimbaud kommende Parole3 immer noch stark dem Surrealismus und dessen avantgardistischen Nachkommen verpflichtet. Das heisst, sie evozierte zumindest teilweise eine romantisierte Sichtweise der Bohème Ende des neunzehnten Jahrhunderts – eine Welt deklassierter Künstler und Intellektueller, welche gefangen waren zwischen den traditionellen Beziehungen des Mäzenatentums und dem neuen Kulturmarkt, in welchem sie gezwungen waren, ihre Waren zu verkaufen. Die negative Haltung der Bohème gegenüber der Arbeit war sowohl eine Revolte gegen diese polarisierte Bedingung als auch ein Ausdruck davon: Als Gefangene zwischen einer aristokratischen Verachtung für das „Professionelle“ und einem kleinbürgerlichen Ressentiment gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Klassen betrachteten sie immer mehr alle Arbeit, auch ihre eigene, als entwertet. Die Surrealisten gaben dieser Verweigerungshaltung einen politischen Charakter, welcher die nihilistischen Gesten von Rimbaud, Lautréamont und der Dadaisten in einen revolutionären Aufruf für einen „Krieg gegen die Arbeit“ verwandelte4. Für die Surrealisten war allerdings, genau wie für einige andere unorthodoxe Revolutionäre (z.B. für Lafargue, Elemente der IWW und auch den jungen Marx), die Überwindung der Arbeit auf einen utopischen Horizont auf der anderen Seite der Revolution hinausgeschoben, in ihrer Unmittelbarkeit wurde sie durch das sozialistische Programm als Befreiung der Arbeit definiert – als Sieg der Arbeiterbewegung und Erhebung der Arbeiterklasse zur neuen herrschenden Klasse. Das Ziel der Überwindung der Arbeit sollte also paradoxerweise erreicht werden, indem zuerst alle Grenzen der Arbeit entfernt werden (z.B. der Kapitalist als Parasit der Arbeit, die Produktionsverhältnisse als Fessel der Produktion) – womit die Bedingung der Arbeit auf alle ausgedehnt („jene, welche nicht arbeiten, sollen nichts essen“) und die Arbeit durch ihren gerechten Anteil am produzierten Wert belohnt würde (durch verschiedene Modelle der Buchhaltung der Arbeit).
Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Mittel und Zweck, welcher sich in den schwierigen Beziehungen der Surrealisten zur französischen kommunistischen Partei zeigte, war typisch für revolutionäre Theorien während der aufsteigenden Periode der Arbeiterbewegung. Von den Anarchosyndikalisten bis zu den Stalinisten setzte ein grosser Teil dieser Bewegung ihre Hoffnung, den Kapitalismus und die Klassengesellschaft allgemein zu überwinden, in die steigende Macht der Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus. Ab einem gewissen Punkt erwartete man, dass diese Arbeitermacht sich der Produktionsmittel bemächtigt und in eine „Übergangsphase“ zum Kommunismus oder der Anarchie aufbricht, eine Periode, während welcher die Situation der Arbeiterklasse nicht überwunden, sondern verallgemeinert würde. Somit koexistierte der finale Zweck der Beseitigung der Klassengesellschaft mit einer ganzen Palette revolutionärer Mittel, welche ihren Fortbestand voraussetzten.
Die Situationistische Internationale (SI) war die Erbin des surrealistischen Gegensatzes zwischen konkreten politischen Mitteln der Befreiung der Arbeit und des utopischen Endes ihrer Überwindung. Ihre prinzipielle Errungenschaft war die Tatsache, ihn von einem durch das sozialistische Programm des Übergangs vermitteltem äusseren Widerspruch hin zu einem inneren Widerspruch zu verschieben, der ihre Konzeption der revolutionären Tätigkeit antrieb. Letztere bedeutete, die Befreiung der Arbeit radikal zu überdenken, entlang von Linien, welche die Betonung auf die Verweigerung jeglicher Trennung zwischen revolutionärer Tätigkeit und der totalen Veränderung des Lebens legten – eine Idee, die implizit in ihrem ursprünglichen Projekt der „Kreation von Situationen“ ausgedrückt wird. Die Wichtigkeit dieser Entwicklung sollte nicht unterschätzt werden, denn die „Kritik der Trennung“ implizierte eine Negation jeglicher zeitlichen Lücke zwischen Mitteln und Zwecken (und somit jeglicher Übergangsphase) und auch eine Verweigerung jeglicher synchronen Vermittlung – sie bestanden auf eine universelle (direktdemokratische) Beteiligung an der revolutionären Tätigkeit. Trotz dieser Fähigkeit, den Raum und die Zeit der Revolution neu zu denken, bestand die Erhabenheit des Widerspruchs der SI zwischen Befreiung und Überwindung der Arbeit letztendlich im Kollaps ihrer zwei Pole in den jeweils anderen, in einer unmittelbaren widersprüchlichen Einheit, welche den Widerspruch zwischen Mittel und Zweck in einen zwischen Form und Inhalt verschob.
Nach ihrer Begegnung mit der neorätekommunistischen Gruppe Socialisme ou Barbarie Anfang der 1960er Jahre übernahm die SI vorbehaltlos das revolutionäre Programm des Rätekommunismus und pries den Rat – den Apparat, mittels welchem die Arbeiter ihre eigene Produktion selbst verwalten und zusammen mit anderen Räten die Gesamtheit der gesellschaftlichen Macht ergreifen würden – als die „endlich vollendete Form“ der proletarischen Revolution. Von diesem Moment an war alles Potenzial und alle Grenzen der SI in der Spannung zwischen ihrem Aufruf „die Arbeit zu überwinden“ und ihrer zentralen Parole „alle Macht den Arbeiterräten“ enthalten. Einerseits war der Inhalt der Revolution eine radikale Infragestellung der Arbeit selbst (und nicht nur ihrer Organisation) mit dem Ziel, die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu überwinden; andererseits jedoch war die Form der Revolution die Übernahme ihrer Arbeitsorte durch die Arbeiter und ihre demokratische Verwaltung5.
Was die SI daran hinderte, den Widerspruch zu überwinden, war die Tatsache, dass die Polaritäten von Inhalt und Form beide ihre Wurzel in der Affirmation der Arbeiterbewegung und der Befreiung der Arbeit hatten. Obwohl die SI sich vom jungen Marx (und den soziologischen Untersuchungen von Socialisme ou Barbarie) die Beschäftigung mit der Entfremdung der Arbeit aneignete, betrachtete sie dennoch diese Kritik als möglich gemacht durch den technologischen Wohlstand des modernen Kapitalismus (die „Freizeit-Gesellschaft“ als Potenzial der Automatisierung) und durch die Bataillons der Arbeiterbewegung, welche sowohl fähig waren, diese technischen Fortschritte umzunutzen (in ihren alltäglichen Kämpfen), als auch sich anzueignen (durch ihre revolutionären Räte). Sie sahen also die Überwindung der Arbeit als ermöglicht auf der Grundlage bestehender Arbeitermacht in den Knotenpunkten der Produktion, sowohl von einem technischen als auch organisatorischen Standpunkt aus. Indem sie die Techniken der Kybernetiker und die Gesten der anti-künstlerischen Bohémiens in die zuverlässigen, schwieligen Hände der organisierten Arbeiterklasse legten, waren die Situationisten fähig, die Überwindung der Arbeit als direktes Resultat ihrer Befreiung zu denken; d.h., sich die Überwindung der Entfremdung als Resultat einer unmittelbaren technisch-kreativen Restrukturierung des Arbeitsplatzes durch die Arbeiter selbst vorzustellen.
In diesem Sinne repräsentiert die Theorie der SI die letzte Geste des Vertrauens in die revolutionäre Konzeption der Selbstverwaltung als integraler Teil des Programms der Befreiung der Arbeit. Doch ihre Kritik der Arbeit wird später übernommen und verändert von jenen, welche versuchten die neuen Kämpfe zu theoretisieren, welche aufkamen, als das Programm in den 1970er Jahren in eine unumkehrbare Krise kam. Letztere verstehen diese Kritik nicht im Sinne einer Affirmation der Arbeiterbewegung, sondern im Sinne der neuen Formen der Kämpfe, welche mit ihrer Auflösung zusammenfielen. Allerdings wurde der Versuch, den zentralen Widerspruch der SI zu überwinden, in den Texten von Invariance, La Vieille Taupe, Mouvement Communiste und anderen zuerst als Kritik des „Formalismus“ ausgedrückt, als Kritik der Tatsache, in der Ideologie des Rätekommunismus die Form dem Inhalt vorzuziehen.
Entgegen den Instruktionen der SI rissen die an den Massenstreiks im Mai 68 beteiligten Arbeiter in Frankreich die Produktionsmittel nicht an sich, bildeten keine Räte und versuchten auch nicht, die Fabriken unter Arbeiterkontrolle laufen zu lassen6. In den allermeisten besetzten Arbeitsplätzen waren die Arbeiter glücklich, die gesamte Organisation den Gewerkschaftsdelegierten zu überlassen und diese hatten oft Mühe, die Arbeiter zu überzeugen, während den Besetzungsversammlungen zu erscheinen, um über die Fortsetzung des Streiks abzustimmen7. In den wichtigsten Klassenkämpfen in den Jahren danach, vor allem in jenen Italiens, war die Form des Rates, der Inbegriff proletarischen Radikalismus im vorhergehenden Zyklus (Deutschland 1919, Italien 1921, Spanien 1936, Ungarn 1956), abwesend. Allerdings erlebte paradoxerweise die Ideologie des Rätekommunismus in diesen Jahren einen Aufschwung, da die Wahrnehmung einer zunehmend widerspenstigen Arbeiterklasse und die abnehmende Vitalität der alten Organisationen anzudeuten schien, dass das einzige, was fehlte, die für spontane und nicht-hierarchische Kämpfe angemessenste Form war. In diesem Kontext schafften es Gruppen wie Information Correspondance Ouvrière (ICO) in Frankreich, Solidarity in England, Root and Branch in den USA teilweise die Strömung der operaisti in Italien, ein neues Interesse für die deutsch-holländische Linke hervorzurufen, indem sie mit dem Finger auf die alten Feinde des Rätekommunismus zeigten – alle linken Parteien und Gewerkschaften, alle „Bürokraten“ in der Sprache der SI – als Verantwortliche des Scheiterns jeder neuen Auflehnung.
Es konnte nicht lange dauern, bis diese Perspektive hinterfragt wurde, und diese Hinterfragung nahm zuerst die Form der Wiederbelebung der anderen linkskommunistischen Tradition an. Unter der intellektuellen Führung von Amadeo Bordiga kritisierte die italienische Linke den Rätekommunismus lange Zeit (jenen Rätekommunismus, welcher in „Der ’Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ mit der italienischen Linken in einen Topf geworfen wurde), weil er Form vor Inhalt stellte und auch wegen seiner unkritischen Konzeption der Demokratie8. Es ist diese Position, gefiltert durch den Einfluss der dissidenten bordigistischen Zeitschrift Invariance, welche Gilles Dauvés Kritik des Rätekommunismus in „Leninismus und die Ultralinke“ zugrundeliegt, einer der grundlegenden Texte der Tendenz, die wir beschreiben9. Dauvé wirft dem Rätekommunismus in zweierlei Hinsicht Formalismus vor: Sein Ansatz der Frage der Organisation betrachtet die Form der Organisation als entscheidenden Faktor (ein „umgekehrter Leninismus“) und seine Konzeption der postrevolutionären Gesellschaft verwandelt die Form (die Räte) in den Inhalt des Sozialismus, indem dieser vor allem als Frage der Verwaltung dargestellt wird. Für Dauvé, genau wir für Bordiga, war dies eine falsche Frage, denn der Kapitalismus ist nicht eine Verwaltungs- sondern eine Produktionsweise, in welcher „Verantwortungsträger“ jeglicher Art (Kapitalisten, Bürokraten oder gar Arbeiter) lediglich die Funktionäre sind, durch welche sich das Wertgesetz artikuliert. Wie es später auch Pierre Nashua (La Vieille Taupe) und Carsten Juhl (Invariance) bemerkten, ersetzt eine solche Beschäftigung mit der Form statt mit dem Inhalt tatsächlich das kommunistische Ziel der Zerstörung der Wirtschaft mit einer blossen Opposition gegen ihre Verwaltung durch die Bourgeoisie10.
Die Kritik des Rätekommunismus konnte nur dazu führen, die anerkannten Thesen der italienischen Linken neu zu formulieren, entweder durch eine immanente Kritik (wie Invariance) oder durch die Entwicklung einer Art italo-deutschen Mischform (wie Mouvement Communiste). Was den Anstoss für eine neue Konzeption der Revolution und des Kommunismus (als Kommunisierung) gab, war nicht einfach ein Verständnis des Inhalts des Kommunismus, abgeleitet von einer gründlichen Lektüre von Marx und Bordiga, sondern auch der Einfluss einer ganzen Welle von Klassenkämpfen Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre, welche „der Verweigerung der Arbeit“ als besonderen Inhalt der Revolution einen neuen Sinn gaben.
Ende der 1970er Jahre begannen die Journalisten und die Soziologen von einer „Revolte gegen die Arbeit“ zu sprechen, welche eine ganze neue Generation von Arbeitern in den traditionellen Industrien heimsuchte und schnell zu mehr Abwesenheit und Sabotage führte, genau wie zu einer weit verbreiteten Missachtung der Autorität der Gewerkschaft. Kommentatoren machten verschiedene Ursachen dafür aus: das durch die Automatisierung ausgelöste Gefühl der Überflüssigkeit und Unsicherheit; die wachsende Kampfbereitschaft traditionell unterdrückter Minderheiten; der Einfluss einer anti-autoritären Gegenkultur; die Kraft und Bedeutung des Anspruchs, welcher durch den Nachkriegsboom und seinem hart erkämpften „sozialen Lohn“ ermöglicht worden ist. Was auch immer der Grund für diese Entwicklungen sein mag, was die neuen Kämpfe zu charakterisieren schien, war ein Zusammenbruch der traditionellen Formen, durch welche die Arbeiter versuchten, die Kontrolle über den Arbeitsprozess zu gewinnen, nur der Ausdruck eines offenkundigen Wunsches, weniger zu arbeiten, ist übrig geblieben. Für viele, welche von der SI beeinflusst worden sind, war dieser neue proletarische „Angriff“ durch eine „Verweigerung der Arbeit“ charakterisiert, welche sich auf die techno-utopischen und bohémien-künstlerischen Elemente stützte, welche die SI nie loswerden konnte. Gruppen wie Négation und Intervention Communiste vertraten die Auffassung, dass nicht nur die Macht der Gewerkschaft durch diese Kämpfe untergraben worden ist, sondern das gesamte marxistische und anarchistische Programm der Befreiung der Arbeit und des Sieges der „Arbeitermacht“. Weit davon entfernt, ihre Arbeit zu befreien, sie unter eigene Kontrolle zu bringen und sie zu benutzen, um die Kontrolle der Gesellschaft durch die Selbstverwaltung des Arbeitsplatzes anzustreben, nahm die „Kritik der Arbeit“ im französischen Mai 68 und im „schleichenden Mai“ in Italien die Form von Hunderttausenden von von ihren Arbeitsplätzen desertierenden Arbeitern an. Statt als Anzeichen, dass die Kämpfe nicht weit genug gegangen sind, wurde die Abwesenheit der Arbeiterräte während dieser Periode somit als Ausdruck eines Bruchs mit dem verstanden, was später als „alte Arbeiterbewegung“ bekannt wurde.
Gerade weil sie bezüglich der obengenannten Verbreitung der Kritik des Rätekommunismus einflussreich war, war die dissidente bordigistische Zeitschrift Invariance ein wichtiger Wegbereiter der kritischen Reflexion über die Geschichte und die Funktion der Arbeiterbewegung. Für Invariance war die alte Arbeiterbewegung integraler Bestandteil der Entwicklung des Kapitalismus von einer lediglich „formellen“ zu einer „reellen Herrschaft“. Das Scheitern der Arbeiter war notwendig, weil es das Kapital war, welches ihr organisierendes Prinzip konstituierte:
„Die Beispiele der deutschen und allen voran der russischen Revolution zeigen, dass das Proletariat absolut fähig war, die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören, welche ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte und somit für die Entwicklung des Kapitals darstellte, doch als das Thema der Herstellung einer anderen Gemeinschaft aktuell wurde, blieb es gefangen in der Logik der Rationalität der Entwicklung ebendieser Produktivkräfte und beschränkte sich darauf, sie zu verwalten.“11
Somit wurde eine Frage, welche für Bordiga eine Frage theoretischer und organisatorischer Fehler war, für Camatte zu einer Frage der Definition der historischen Funktion der Arbeiterbewegung innerhalb des Kapitalismus. Die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse bedeutete bloss die Entwicklung der Produktivkräfte, denn die prinzipielle Produktivkraft war die Arbeiterklasse selbst. Man brauchte Camatte nicht in die Wildnis zu folgen12, um mit dieser Einschätzung einverstanden zu sein. Alles in allem war es in den 1970er Jahren klar, dass die Arbeiterbewegung, zumindest am Anfang, im Osten ein integraler Bestandteil der beispiellosen Steigerung der produktiven Kapazität der sozialistischen Staaten war; während im Westen die Arbeiterkämpfe für bessere Bedingungen eine Schlüsselrolle in der Ermöglichung des Nachkriegsbooms und der daraus resultierenden globalen Expansion der kapitalistischen Produktionsweise spielten. Doch für viele zeigte die Krise der Institutionen der Arbeiterbewegung in den 1970er Jahren, dass diese rein kapitalistische Funktion selbst in eine Krise geriet und dass die Arbeiter nun fähig wären, die Bürde der Geschichte loszuwerden. Für Mouvement Communiste, Négation, Intervention Communiste und andere war der Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung etwas, das gefeiert werden musste, nicht weil die korrupte Führungsspitze der Arbeiterorganisationen nicht mehr fähig sein würde, die Autonomie der Massen einzudämmen, sondern, weil eine solche Veränderung eine Transzendenz der historischen Funktion der Arbeiterbewegung bedeutete, eine Transzendenz, welche ein Zeichen war für das Wiederaufkommen der kommunistischen Bewegung, die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“13. Und sie tat es in einem unmittelbaren Sinn, denn die Aufstände und wilden Streiks dieser Dekade wurden von diesen Autoren als totale Verweigerung aller Vermittlungen der Arbeiterbewegung interpretiert, nicht für eine Art „demokratischere“ Vermittlung wie die Arbeiterräte, sondern dahingehend, dass die unmittelbare Hervorbringung kommunistischer Beziehungen als einziger revolutionärer Horizont verstanden wurde. Wenn also zuvor der Kommunismus als etwas betrachtet wurde, das nach der Revolution aufgebaut werden musste, wurde die Revolution nun als nicht anderes als die Hervorbringung des Kommunismus (Überwindung der Lohnarbeit und des Staates) betrachtet. Die Übergangsphase ist über Bord geworfen worden14.
In einem kürzlich erschienenen Text fasst Dauvé diese Einschätzung der alten Arbeiterbewegung zusammen:
„Die Arbeiterbewegung, welche 1900 oder immer noch 1936 existierte, wurde weder von der faschistischen Repression zerrieben, noch mit Radios und Kühlschränken gekauft: Sie zerstörte sich selbst als Kraft des Wandels, weil sie zum Ziel hatte, die proletarische Bedingung zu erhalten, nicht sie zu überwinden. […] Der Zweck der alten Arbeiterbewegung war es, die gleiche Welt zu übernehmen und sie anders zu verwalten: die Faulenzer zum Arbeiten zu bringen, die Produktion zu entwickeln, Arbeiterdemokratie einzuführen (zumindest im Prinzip). Nur eine kleine Minderheit, sowohl „anarchistisch“ als „marxistisch“, sagte stets, dass eine andere Gesellschaft gleichbedeutend mit der Zerstörung des Staates, der Ware und der Lohnarbeit ist, obwohl sie dies selten als einen Prozess definierte, eher als Programm, dass nach der Machtergreifung umgesetzt werden muss...“15
Gegen einen solchen programmatischen Ansatz verteidigten Gruppen wie Mouvement Communiste, Négation und La Guerre Sociale eine Konzeption der Revolution als unmittelbare Zerstörung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse oder als „Kommunisierung“. Wie wir sehen werden, war das Verständnis der Kommunisierung zwischen den verschiedenen Gruppen unterschiedlich, doch sie bedeutete im wesentlichen die Anwendung kommunistischer Massnahmen innerhalb der Revolution – als Bedingung ihres Überlebens und als Hauptwaffe gegen das Kapital. Jegliche „Übergangsphase“ wurde als inhärent konterrevolutionär betrachtet, nicht nur, weil sie zu einer alternativen Machtstruktur führen würde, welche nicht einfach „absterben“ würde (siehe anarchistische Kritiken der „Diktatur des Proletariats“), auch nicht einfach, weil grundlegende Aspekte der Produktionsverhältnisse scheinbar nicht angegangen werden, sondern weil die Grundlage selbst der Arbeitermacht, auf welcher ein solcher Übergang basierte, nun als etwas betrachtet wurde, das den Kämpfen grundlegend fremd war. Arbeitermacht war nur die andere Seite der Medaille der Macht des Kapitals, die Macht, Arbeiter als Arbeiter zu reproduzieren; somit war die einzig verfügbare revolutionäre Perspektive die Überwindung dieses gegenseitigen Verhältnisses16.
Das Milieu, in welchem die Idee der Kommunisierung auftauchte, war nie besonders homogen und die Spaltungen vertieften sich mit den Jahren. Einige haben letztendlich alles aufgegeben, was von der rätekommunistischen Ablehnung der Partei übrig geblieben war und sind zum übrig gebliebenen Erbe der italienischen Linken zurückgekehrt, sie haben sich rund um atavistische Sekten wie die Internationale Kommunistische Strömung (IKS) gesammelt. Andere benutzten die Infragestellung der alten Arbeiterbewegung und des Ideals der Arbeiterräte, um eine Infragestellung des revolutionären Potenzials der Arbeiterklasse zu fordern. In ihrer extremsten Form, jener der Zeitschrift Invariance, führte dies zum Aufgeben der „Theorie des Proletariats“, um sie mit einem rein normativen Verlangen, diese Welt zu verlassen, zu ersetzen, eine Welt, in welcher die Gemeinschaft des Kapitals durch reelle Herrschaft die menschliche Gemeinschaft verdrängt hat. Doch auch unter jenen, welche nicht so weit gingen, gab es ein beständiges Gefühl, dass, solange die Kämpfe an den Arbeitsplatz gebunden blieben, sie sich nur als Verteidigung der Bedingung der Arbeiterklasse ausdrücken könnten. Trotz ihren verschiedenen Ansätzen kamen Mouvement Communiste, La Guerre Sociale, Négation und ihre Nachfahren zum Schluss, dass die Revolten am Arbeitsplatz in den 1970er Jahren und die Verbreitung der Kämpfe rund um die Reproduktion, mit welcher sie zusammenfielen, in jenem Masse, in welchem sie scheinbar den Zwängen der Klassenidentität entwischten, die „Klasse für sich“ von der „Klasse an sich“ befreiten und dadurch das Potenzial der Kommunisierung als Verwirklichung der wahren menschlichen Gemeinschaft erkennen lassen. Einige Leute, welche dieser Tendenz nahe standen (insbesondere Pierre Guillaume und Dominique Blanc), trieben die Kritik des Antifaschismus (welche in gewissem Masse von allen geteilt wurde, welche die These der Kommunisierung verteidigten) so weit, dass sie in die „Faurisson-Affäre“ Ende der 1970er Jahre verwickelt wurden17. Eine andere Tendenz, welche von Théorie Communiste (nachstehend TC) repräsentiert wird, versuchte, die These der Kommunisierung selbst zu historisieren und betrachtete sie in den Begriffen der Wandel der Klassenverhältnisse, welche Teil des Prozesses der Untergrabung der Institutionen der Arbeiterbewegung und der Identität der Arbeiterklasse im allgemeinen waren. Sie konzeptualisierten daraufhin diese Veränderung als grundlegende Restrukturierung der kapitalistischen Produktionsweise, welche dem Ende eines Kampfzyklus und dem Beginn, durch eine erfolgreiche Konterrevolution, eines neuen Zyklus entsprach. Das charakteristische Merkmal dieses neuen Zyklus ist für TC die Tatsache, dass er Träger des Potenzials der Kommunisierung als Grenze des Klassenwiderspruchs ist, welcher sich von nun an auf der Ebene der Reproduktion befindet (siehe das Nachwort für eine genauere Erklärung der Theorie von TC diesbezüglich)18.
Während TC ihre Theorie der Restrukturierung Ende der 1970er Jahre entwickelte, folgten andere in den 1980er und 1990er Jahre dem gleichen Weg und die Gruppe Troploin (die im wesentlichen aus Gilles Dauvé und Karl Nesic besteht) hat vor kurzem in „Wither the World“ [„Allmählich aus der Welt verschwinden“] und „In for a Storm“ [„Ein Sturm bahnt sich an“] etwas ähnliches versucht. Der Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen ist deutlich, nicht zuletzt, weil letztere scheinbar zumindest teilweise in Opposition zu ersterer entwickelt worden ist. Der Austausch zwischen Théorie Communiste und Troploin, welchen wir hier veröffentlichen, fand in den letzten zehn Jahren statt und der Einschätzung der revolutionären Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, welche man in den Texten findet, liegen verschiedene Konzeptionen der kapitalistischen Restrukturierung und unterschiedliche Interpretationen der gegenwärtigen Periode zugrunde.
Der erste Text, When Insurrections Die [Wenn die Aufstände sterben] basiert auf einer älteren Einleitung von Gilles Dauvé zu einer Artikelsammlung der italienischen linkskommunistischen Zeitschrift Bilan [Bilanz] über den spanischen Bürgerkrieg. Dauvé geht es in diesem Text darum, zu zeigen, wie die Welle der proletarischen Revolten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Launen des Kriegs und der Ideologie zerschlagen wurde. Auf diese Weise wird auch die Revolution in Russland dem Bürgerkrieg geopfert und durch die Konsolidierung der bolschewistischen Macht zerstört; in Italien und Deutschland werden die Arbeiter von den Gewerkschaften und Parteien und durch die Lüge der Demokratie betrogen und in Spanien ist es einmal mehr der Marsch in Richtung Krieg (mit dem Antifaschismus als Marschmusik), welcher das Schicksal des gesamten Zyklus besiegelt, indem die proletarische Revolution in die Falle zweier bürgerlicher Fronten geriet.
Dauvé spricht nicht über die jüngeren Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre, doch es ist offensichtlich, dass Beurteilungen dieser Periode, in Bezug z.B. auf die Natur der Arbeiterbewegung als ganzes, seine Einschätzung bezüglich dessen beeinflusste, was „fehlte“ in den alten besiegten Wellen der Kämpfe. In ihrer Kritik von Wenn die Aufstände sterben greifen TC das an, was sie als Dauvés „normative“ Perspektive betrachten, in welcher wirkliche Revolutionen dem gegenüber gestellt werden, was sie hätten sein können oder sollen – einer nie ganz ausgesprochenen Formel einer wahren kommunistischen Revolution. TC ist im allgemeinen einverstanden mit Dauvés Konzeption der Revolution (als Kommunisierung), doch kritisiert Dauvé dafür, sie ahistorisch früheren revolutionären Kämpfen als Mass ihres Erfolgs und ihres Scheiterns aufzuzwingen (und somit das historische Auftauchen der These der Kommunisierung selbst nicht zu berücksichtigen). Gemäss TC folgt daraus, dass die einzige Erklärung, welche Dauvé für das Scheitern vergangener Revolutionen geben kann, jene letztendlich tautologische ist, dass sie nicht weit genug gegangen seien – „die proletarischen Revolutionen scheiterten, weil es die Proletarier nicht schafften, die Revolution zu machen“19. Im Gegensatz dazu behaupten sie, dass ihre eigene Theorie eine robuste Beschreibung des gesamten Zyklus der Revolution, der Konterrevolution und der Restrukturierung geben kann, in welcher gezeigt werden kann, dass die Revolutionen ihre eigenen Konterrevolutionen enthielten als inhärente Grenze des Zyklus, in welchem sie auftauchten und den sie beendeten20.
In den nachfolgenden drei Texten des Austauschs (zwei von Troploin und einer von TC) werden mehrere Kontroversen untersucht, auch die Rolle des „Humanismus“ in der Konzeption der Kommunisierung von Troploin und die Rolle des „Determinismus“ in jener von TC. Doch für uns ist der interessanteste Aspekt dieses Austauschs, der Grund, wieso wir ihn hier veröffentlichen, die Tatsache, dass er der offenste Versuch darstellt, dem wir begegnet sind, das Erbe der revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts im Sinne einer Konzeption des Kommunismus weder als Ideal, noch als Programm zu bewerten, sondern als eine Bewegung, welche der Welt des Kapitals immanent ist und kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse auf der Basis von schon existierenden Prämissen aufhebt. Um Fragen zu diesen Prämissen zu stellen, zur Gegenwart – unserem Startpunkt – zurückzukehren, versuchen wir, die Bedingungen ihres Auftauchens im laufenden Kampf- und Revolutionszyklus zu analysieren.
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