Endnotes

Endnotes2
  1. Crisis in the Class Relation
  2. Misery and Debt
  3. Notes on the New Housing Question
  4. Communisation and Value-Form Theory
  5. The Moving Contradiction
  6. The History of Subsumption
  7. Sleep-Worker’s Enquiry

Elend und Schulden Zur Logik und Geschichte von Überschussbevölkerungen und überschüssigem Kapital

Wir neigen dazu, die gegenwärtige Krise mit überlieferten Theorien des Zyklus zu interpretieren. Während Mainstream-Ökonomen nach den »Hoffnungszeichen« für eine Erholung suchen, bescheiden sich kritische Kritiker mit der Frage, ob es bis zur Wiederkehr des Wachstums nicht noch etwas dauern könnte. Geht man von Theorien des Konjunkturzyklus oder selbst der langen Wellen aus, liegt in der Tat die Annahme nahe, dass auf jeden Crash zwangsläufig ein Boom folgt und Abschwünge stets Aufschwüngen den Weg bahnen. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass wir – falls und wenn der Schlamassel vorbei sein wird – ein neues Goldenes Zeitalter des Kapitalismus erleben werden?

Zunächst sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Wunderjahre des vorhergehenden Goldenen Zeitalters (etwa von 1950 bis 1973) nicht nur einen Weltkrieg und einen gewaltigen Anstieg der Staatsausgaben, sondern auch einen historisch beispiellosen Bevölkerungstransfer von der Landwirtschaft in die Industrie zur Voraussetzung hatten. Im Streben nach »Modernisierung« erwies sich die bäuerliche Bevölkerung als machtvoller Hebel, bot sie doch eine Quelle billiger Arbeitskraft für einen neuen Industrialisierungsschub. 1950 arbeiteten 23 Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft, in Frankreich waren es 31, in Italien 44 und in Japan 49 Prozent – und im Jahr 2000 überall weniger als 5 Prozent.1 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert reagierte das Kapital auf Situationen der Massenarbeitslosigkeit, indem es Proletarier zurück aufs Land drängte oder in die Kolonien exportierte. Mit der Beseitigung der Bauernschaft in den traditionellen Kerngebieten – die zur selben Zeit erfolgte, als das Kapital an die Grenzen der kolonialen Expansion stieß – beseitigte es zugleich sein eigenes traditionelles Mittel der Erholung.

Unterdessen stieß der Industrialisierungsschub, der die aus der Landwirtschaft Verdrängten absorbiert hatte, in den 1970er Jahren selbst an seine Grenzen. Seitdem haben die maßgeblichen kapitalistischen Länder einen beispiellosen Rückgang der industriellen Beschäftigung erlebt: Ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung ist in den letzten drei Dekaden um 50 Prozent gesunken. Selbst in neuen Industrieländern wie Südkorea und Taiwan ist sie in den letzten zwei Jahrzehnten relativ zurückgegangen.2 Gleichzeitig hat sowohl die Zahl schlecht bezahlter Dienstleistungsjobs wie auch der im informellen Sektor tätigen Slumbewohner zugenommen, denn andere Optionen stehen denjenigen, die für den Arbeitskräftebedarf schrumpfender Industrien überflüssig geworden sind, nicht mehr offen.

Für Marx beschränkte sich die fundamentale Krisentendenz der kapitalistischen Produktionsweise nicht auf periodische Wirtschaftsabschwünge. Vielmehr zeigte sie sich am eindrücklichsten in einer permanenten Krise der Arbeitswelt. Die differentia specifica kapitalistischer ›ökonomischer‹ Krisen – dass Menschen trotz guter Ernten verhungern und Produktionsmittel trotz Bedarfs an ihren Erzeugnissen brachliegen – ist lediglich ein Moment dieser umfassenderen Krise: der ständigen Reproduktion einer Knappheit von Arbeitsplätzen inmitten eines Überflusses an Gütern. Es ist die Dynamik dieser Krise – der Krise der Reproduktion des Verhältnisses von Kapital und Arbeit –, die der vorliegende Artikel untersucht.3

Einfache und erweiterte Reproduktion

So komplex die Resultate des Kapitals sind, es hat nur eine wesentliche Voraussetzung: Menschen, die keinen direkten Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern haben und folglich auf die Vermittlung des Marktes angewiesen sind. Daher der Begriff ›Proletariat‹, der ursprünglich landlose Bürger in römischen Städten bezeichnete. Mangels Arbeit befriedete der Staat sie zunächst durch Brot und Spiele und später, indem er sie als Söldner beschäftigte. Doch die proletarische Existenz ist historisch betrachtet außergewöhnlich: In Gestalt von autarken Bauern oder Hirten besaß die globale Bauernschaft meist direkten Zugang zum Land, auch wenn sie fast immer einen Teil ihres Produkts an die herrschenden Eliten abgeben musste. Dies machte die »ursprüngliche Akkumulation« notwendig: Die Trennung der Menschen vom Land, ihrem wichtigsten Reproduktionsmittel, bewirke eine umfassende Abhängigkeit vom Warentausch.4 In Europa wurde dieser Prozess in den 1950er und 1960er Jahren abgeschlossen. In globalem Maßstab nähert er sich – mit Ausnahme des subsaharischen Afrika, Teilen Südasiens und Chinas – erst jetzt seinem Endpunkt.

Es genügt jedoch nicht, dass die Trennung der Menschen vom Land einmal vollzogen wird. Damit sich Kapital und ›freie‹ Arbeit stets von Neuem auf dem Markt gegenübertreten, bedarf es ihrer beständigen Wiederholung. Zum einen muss das Kapital auf dem Arbeitsmarkt bereits eine Masse von Menschen vorfinden, die keinen direkten Zugang zu Produktionsmitteln besitzen und folglich ihre Arbeitskraft für einen Lohn anbieten. Zum anderen muss es auf dem Absatzmarkt bereits eine Masse von Menschen vorfinden, die über einen Lohn verfügen und ihn für Waren ausgeben wollen. Sind diese zwei Bedingungen nicht gegeben, kann es nur begrenzt akkumulieren, da ihm Massenproduktion und -absatz verwehrt bleiben. Die Möglichkeit einer Massenproduktion war außerhalb der USA und Großbritanniens bis 1950 eben deshalb begrenzt, weil die Größe des Marktes begrenzt war – aufgrund der Existenz einer großen, sich teilweise selbstversorgenden Bauernschaft, die nicht in erster Linie vom Lohn lebte. Die Geschichte der Nachkriegsphase ist die Geschichte der tendenziellen Abschaffung der verbliebenen globalen Bauernschaft, zunächst als autarke Bauern und schließlich als Bauern, die das von ihnen bearbeitete Land besitzen, schlechthin.

Marx erklärt dieses strukturelle Merkmal des Kapitalismus im Kapitel über »einfache Reproduktion« im ersten Band des Kapital. Wir verstehen diesen Begriff hier als die Reproduktion des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeitern, die sich in und durch Zyklen von Produktion und Konsumtion vollzieht.5 Die einfache Reproduktion wird nicht aus »Gewohnheit« oder durch ein falsches, mangelhaftes Bewusstsein der Arbeiter aufrechterhalten, sondern durch materiellen Zwang – durch die Ausbeutung der Lohnarbeiter, die Tatsache, dass sie alle zusammen nur einen Teil der von ihnen produzierten Güter kaufen können:

Der Prozess (…) sorgt dafür, daß diese selbstbewußten Produktionsinstrumente nicht weglaufen, indem er ihr Produkt beständig von ihrem Pol zum Gegenpol des Kapitals entfernt. Die individuelle Konsumtion sorgt einerseits für ihre eigne Erhaltung und Reproduktion, andrerseits durch Vernichtung der Lebensmittel für ihr beständiges Wiedererscheinen auf dem Arbeitsmarkt.«6

Die Akkumulation des Kapitals betrifft daher nicht entweder die Produktions- oder die Konsumtionssphäre. Eine der beiden Sphären überzubetonen, führt der Tendenz nach zu einseitigen Theorien kapitalistischer Krisen als »Überproduktions-« oder »Unterkonsumtionskrisen«. Die Lohnarbeit strukturiert den Reproduktionsprozess als Ganzes: Der Lohn weist Arbeiter der Produktion und zugleich Produkte den Arbeitern zu. Darin besteht eine von geographischen und historischen Besonderheiten unabhängige Konstante des Kapitals. Der Zusammenbruch der Reproduktion erzeugt eine Krise zugleich der Überproduktion wie der Unterkonsumtion, denn unter dem Kapital ist beides dasselbe.

Allerdings können wir nicht derart direkt von einer Entfaltung der Struktur der einfachen Reproduktion zur Krisentheorie übergehen. Die einfache Reproduktion ist nämlich ihrem Wesen nach zugleich erweiterte Reproduktion. So wie die Arbeiter auf den Arbeitsmarkt zurückkehren müssen, um ihren Lohnfonds wieder aufzufüllen, muss das Kapital auf den Kapitalmarkt zurückfließen, um seine Profite in die Erweiterung der Produktion zu investieren. Jedes Kapital muss akkumulieren, andernfalls fällt es in der Konkurrenz mit anderen Kapitalen zurück. Wettbewerbsorientierte Preisbildung und variable Kostenstrukturen führen zu unterschiedlichen Profitraten innerhalb der einzelnen Sektoren, was wiederum zu effizienzsteigernden Innovationen anspornt, da Unternehmen durch eine Senkung ihrer Kosten unter den Branchendurchschnitt entweder Extraprofite einstreichen oder ihre Preise senken und so Marktanteile gewinnen können. Fallende Kosten führen aber grundsätzlich zu fallenden Preisen, denn die Mobilität des Kapitals zwischen den Sektoren resultiert in einem Ausgleich der Profitraten: Die Bewegung des Kapitals auf der Suche nach höheren Profiten führt zu einem Auf und Ab des Angebots (und somit der Preise), sodass der Ertrag neuer Investitionen schließlich um einen sektorenübergreifenden Durchschnitt pendelt. Diese ständige Bewegung des Kapitals hat außerdem zur Folge, dass sich kostensenkende Innovationen quer durch die Sektoren ausbreiten – und sie schafft ein Gesetz der Profitabilität, das alle Kapitale unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Konfigurationen zur Profitmaximierung zwingt. Umgekehrt kann die Akkumulation bei sinkender Profitabilität nur durch Kapitalvernichtung und Freisetzung von Arbeitskraft, die die Bedingungen der Profitabilität wiederherstellen, erneut in Gang gebracht werden.

Dieses formelle Verständnis des Verwertungsprozesses vermag jedoch nicht die geschichtliche Dynamik zu erfassen, die Marx im Blick hat. Das Gesetz der Profitabilität allein gewährleistet keine erweiterte Reproduktion: Es müssen auch neue Industrien und Märkte entstehen. Steigende und fallende Profite signalisieren der Kapitalistenklasse, dass in bestimmten Industrien Innovationen stattgefunden haben, aber entscheidend dabei ist, dass sich Output und folglich Beschäftigung im Lauf der Zeit anders zusammensetzen: Industrien, die früher einen erheblichen Teil von Output und Beschäftigung ausmachten, wachsen nun langsamer, während ein zunehmender Teil von beidem auf neue Industrien entfällt. Hier müssen wir die bestimmenden Faktoren der Nachfrage unabhängig von denen des Angebots untersuchen.7

Die Nachfrage nach einem Produkt verändert sich mit seinem Preis. Ist es teuer, wird es nur von den Reichen gekauft. Mit zunehmenden arbeitssparenden Innovationen fällt sein Preis und das Produkt wird zu einem Massenkonsumgut. Auf dem Scheitelpunkt dieses Prozesses führen Innovationen zu einer gewaltigen Markterweiterung für das jeweilige Produkt, die die Kapazitäten der existierenden Unternehmen übersteigt; die Preise fallen langsamer als die Kosten, was zu einer Phase hoher Profite führt. Nun strömt weiteres Kapital in den Sektor und zieht zusätzliche Arbeitskräfte an. An einem bestimmten Punkt werden jedoch die Grenzen des Marktes erreicht: Er ist gesättigt.8 Von nun an führen Innovationen dazu, dass die Gesamtkapazität über die Größe des Marktes hinauswächst; die Preise fallen schneller als die Kosten, was zu einer Phase sinkender Profite führt. Kapital fließt nun aus dem Sektor ab, Arbeitskräfte werden ausgespuckt.9

Dieser Prozess, von Ökonomen als »Reifung« von Industrien bezeichnet, hat sich viele Male wiederholt. Die Agrarrevolution, die zuerst im frühneuzeitlichen England ausbrach, stieß schließlich an die Grenzen des Binnenmarkts für ihre Produkte. Innovationen im Arbeitsprozess wie die Zusammenfassung verstreuten Landbesitzes, die Abschaffung von Brachflächen und eine differenzierte Bodennutzung je nach natürlichen Vorteilen bedeuteten – unter kapitalistischen Bedingungen der Reproduktion – dass sowohl Arbeitskräfte wie Kapital systematisch vom Land verdrängt wurden. Infolgedessen erlebte England eine rasche Verstädterung und London wurde die größte Stadt Europas.

An dieser Stelle kommt die wesentliche Dynamik der erweiterten Reproduktion ins Spiel. Denn die aus der Landwirtschaft verdrängten Arbeitskräfte mussten nicht ewig in den Städten schmachten. Sie wurden mit der Industrialisierung Großbritanniens schließlich vom herstellenden Gewerbe aufgesogen, insbesondere von der Textilindustrie, die gerade von Wolle zu Baumwollstoffen überging. Innovationen im Arbeitsprozess wie die Spinning Jenny, die Spinning Mule und der mechanische Webstuhl führten jedoch einmal mehr dazu, dass auch die Textilindustrie schließlich Arbeitskräfte und Kapital abstieß. Dieser Niedergang der Industrien der ersten industriellen Revolution – gemessen am Anteil an der Gesamtbeschäftigung und dem akkumulierten Kapital – bereitete denen der zweiten industriellen Revolution den Weg (Chemie, Telekommunikation, elektronische Geräte und Automobile). Eben diese Bewegung von Arbeitskraft und Kapital zwischen den Produktionszweigen, die auf unterschiedlichen Profitraten beruht, ermöglicht dauerhaft eine erweiterte Reproduktion:

Expansion (…) ist unmöglich ohne disponibles Menschenmaterial, ohne eine vom absoluten Wachstum der Bevölkerung unabhängige Vermehrung von Arbeitern. Sie wird geschaffen durch den einfachen Prozeß, der einen Teil der Arbeiter beständig ›freisetzt‹, durch Methoden, welche die Anzahl der beschäftigten Arbeiter im Verhältnis zur vermehrten Produktion vermindern. Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände.«10

Auf diese Weise reproduziert die erweiterte Reprodukt

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